GREETINGS AUS DER OFFENEN KÜCHE J’accuse! Oder heisst es Je regrette!? Ich bekenne mich jedenfalls schuldig; jahrelang habe ich ja mit Reportagen aus grossen offenen fliessenden Räumen selbst mitgeholfen, ein Ideal zu fördern, das inzwischen gehörig an meinen Nerven zerrt – das der Offenen Küche. Das Auge isst mit, klar, aber das Ohr wohnt auch immer mit. Und zwar mehr, als mir früher klar war, ich bin kurz davor, wie die stoisch-tapferen Zeugen Jehovas mich vor die grossen Küchenstudios zu stellen und Plakate in die Luft zu halten: Kehret um! Glaubt nicht den falschen neuen Propheten von gemeinschaftsfördernder Atmosphäre und heiterer Grosszügigkeit! Wie bei so vielen Irrtümern, im Allgemeinen wie bei mir, stand am Anfang Idealismus. Wer will etwas gegen Frauen-Sollen-Es-Besser-Haben und fliessende Raumparaden a la Corbusier haben? Oder gegen schöne Doppelseiten in Magazinen? Als ich meine Frau kennenlernte, war schnell klar: Meine Kochtalente liessen mich immer nur Zweitbester sein, meine familiären Stärken, so hat sich langfristig herausgestellt, liegen in den Zuständigkeiten für Zeitungs- und Bücherstapel, DVDs und Technik-Neuheiten (ausser Haustechnik). Soweit zu den Personen und der Rollenverteilung, jetzt zum Bühnenbild des Dramas: ein neubezogener 3oqm-Raum, den wir in der ersten Euphorie so eingerichtet haben, wie man es jetzt überall sieht – offene Küche, im Zentrum der grosse Esstisch; Sofa, Buchregale und Fernseher auf der anderen Seite, keine Gardinen. Wenn wir nun Gäste haben, ist alles so, wie es sein soll: ein fröhliches Durcheinander und alle haben Spass. Der Preis dafür aber sind die gefühlt 40 Abende pro Monat, wo wir keine Gäste haben, und das Problem heisst Lärm, die private Stunde zwischen Tag und Abend funktioniert deutlich schlechter. Wer kocht, muß jetzt zwangsläufig den Fernsehton mithören oder wer lesen will, erkennt die Menüfolge ob er will oder nicht früh von der Soundbar zwischen Schrank und Herd: Schon einfache Pasta mit Tomaten haben mehr Perkussionanteile als Ravels Bolero. Da braucht man für den inneren Frieden viel Humor, Oropax oder Kopfhörer. Und den Mut, sich gegen jeden Zeitgeist einzugestehen: Kochen und Wohnen in eigenen Räumen, das wärs!
Stille Grüsse von ROLF