GREETINGS AUS DER MUSTERSIEDLUNG. Zwölf Uhr mittags, vielleicht auch halb eins, kein Mensch auf der Strasse. Nicht mal Japaner, die sonst hier mir ihren Architekturführern entlangtrotten, Stichwort „Bauhaussiedlung Dessau-Törten“. Gropius versuchte hier in den Zwanziger Jahren, erstmals Ideen aus der amerikanischen Ford-Fliessband-Produktion beim Hausbau einzusetzen: vor Ort gegossene Stahlbetonbalken und ein auf Schienen weiterlaufender Baukran schafften so 133 Häuser in 88 Tagen. Eine Hauseinheit also rechnerisch in weniger als einem Tag. Das war Rekord – aber auch Grund für massive Baumängel. Den Ruf macht bis heute aber ohnehin eher die Gestaltung und die Philosophie aus: weissgeschlämmte Fassaden, Flachdächer, Splitlevel, stahlgefasste Fensterbänder unter der Decke – man brauchte keine Gardinen, konnte aber im Sitzen nicht den Himmel sehen; zur billigen Hypothek spendierte die Stadt Dessau zusätzlich ein Schwein pro Hauseinheit für den riesigen Selbstverorgungsgarten. Bestes sozialdemokratisches Allen-Soll-Es-Besser-Gehen und Mit-Uns-Zieht-Die-Neue-Zeit. Allzuviel Zeit aber war beidem nicht vergönnt. Die Nazis hassten die Flachdachmoderne, die DDR-Sozialisten das Individuelle. Und heute? Fasziniert die Anlage noch immer, trotz vieler scheusslicher Umbauten. Eine eigenartige Mischung aus ältlichem klein gewordenem Optimismus und noch heute spürbarer Eleganz.
Gemischte Grüsse sendet ROLF